Diagnose: Anenzephalie…

Kurz nach der Geburt unserer Tochter Hanna saßen wir im Kinderhospiz Bethel beim Mittagessen mit dem Palliativmediziner zusammen, der auch vor einigen Monaten dabei war, als wir uns das Hospiz angeschaut haben. Er fragte mich, ob das der richtige Weg war.

Der Weg war nicht leicht. Nachdem wir kräftemäßig schon sehr angeschlagen waren von der Sanierung unserer Wohnung und der Vorbereitung des Umzugs kam Hannas Diagnose fünf Tage vor dem Umzug (23.04.18) wie ein Keulenschlag, der mir den Boden unter den Füßen weg riss. Zwei Wochen vorher war beim Ultraschall aufgefallen, dass der Kopf nicht ganz rund war. Ich dachte, dass sich das entweder auswachsen, oder unser Kind behindert sein würde. Als mir die Frau unseres Pastors am Tag vor der Diagnose anbot, mit mir zur Frauenärztin zu fahren, habe ich dankend abgelehnt. Im besten Fall war der Kopf normal, im schlimmsten Fall hatte sich nichts verändert. So lag ich auf der Liege, unser Sohn Elias saß neben mir, als meine Frauenärztin den Ultraschall startete. Selbst mir als Laien war beim Anblick meines Kindes klar, dass das mehr ist als eine mögliche Behinderung. Diagnose: Anenzephalie, unserem Kind fehlt die Schädeldecke, weswegen das Gehirn im Laufe der Schwangerschaft vom Fruchtwasser zersetzt wird. Es wird also kurz vor/ während oder kurz nach der Geburt sterben. Sie fragte mich, wie ich zum Thema Abtreibung stehen würde in diesem Fall. Mir war in dem Moment völlig klar, dass das keine Option war. Irgendwie fuhr ich mit Elias nach Hause und legte ihn schlafen, bevor ich zusammenbrach. Der Gedanke einer Abtreibung war dann aber plötzlich sehr verlockend. Halte ich das aus, noch fünf Monate ein Kind in mir zu haben, von dem ich weiß, dass es sterben wird. Halte ich die Schmerzen der Symphysenlockerung aus, wenn ich weiß, dass ich am Ende mit leeren Armen da stehe. Kann ich meiner Verantwortung Elias gegenüber gerecht werden? Was ist mit meinem Alter? Lieber abkürzen und möglichst schnell wieder schwanger werden? Mein Mann Sebastian kam abends nach Hause. Er hatte mit seinem Bruder in unserer neuen Wohnung den Boden verlegt. Er sagte etwas, das mir zu Denken gab und im Nachhinein sehr half: „Wenn wir unser Kind austragen, können wir es loslassen. Wenn wir es abtreiben, ist die Gefahr sehr groß, dass wir in dieser Zeit stecken bleiben.“ Er hatte gut reden. Er musste die Last und die Schmerzen der Schwangerschaft und Geburt ja nicht tragen. Nachts wurde mir dann aber klar, dass ich möchte, dass mein Kind auch als mein Kind registriert wird – von den Behörden wie auch von meiner Umgebung.

So beschlossen wir, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Es blieben noch vier Tage bis zum Umzug. Aus Angst, am Umzugstag emotional zusammenzubrechen, schrieb ich unseren Umzugshelfern, wie es um unsere Schwangerschaft bestellt ist. Verbunden mit der Bitte, mich am Samstag nicht darauf anzusprechen. Im Laufe der nächsten Wochen wurde mir immer deutlicher, dass ich es nicht aushalte, mich den Trostversuchen anderer Menschen zu stellen, die von unserer Diagnose überfordert waren und einfach irgendwas sagten. Ich weiß, dass sie das lieb meinten. Aber manche Dinge taten einfach weh. So entschieden wir uns, offen damit umzugehen und von der Kanzel unserer Gemeinde oder per Rundmail unsere Umgebung über Hannas Schicksal zu informieren. So musste niemand direkt auf uns reagieren. Das half sehr. Wir bekamen ungemein viel Ermutigung und Unterstützung. So zeigten sich erste kleine Lichter auf diesem Weg durch das dunkle Tal.

Unsere Wohnung war immer noch nur halbfertig. Und wir beide waren so ausgelaugt, dass wir auch nur sehr langsam irgendwas an diesem Zustand ändern konnten. Je mehr ich über die Krankheit las, umso größer wurden dann auch plötzlich Fragen, die ich mir nie vorgestellt hätte, jemals zu haben. Kann ich mein Kind ansehen, oder wird es so entstellt sein? Hat mein Kind überhaupt eine Seele, wenn es doch kein Bewusstsein hat. Was macht den Menschen zum Menschen. Ich telefonierte mit einer Frau, die vor vielen Jahren ein Kind mit Anenzephalie abtrieb. Ihr Pastor hatte ihr gesagt, dass das eigentlich ja auch kein Mensch war. Stimmte das? Wann beginnt das Leben? Was definiert einen Menschen. In Gesprächen mit unserem Pastor und seiner Frau und Sebastian klärten sich diese Fragen allmählich und ich konnte immer mehr ein Ja zu meinem Kind finden.

Mein Bauch wuchs und Hanna wurde immer realer und greifbarer. Sie bewegte sich viel, was auch Teil ihrer Krankheit war. Das verstärkte dieses widersprüchliche Gefühl der Freude, sie zu spüren, aber auch des Schmerzes, dass ihre Bewegungen auch von ihrer Krankheit her rührten. Wie gern hätte ich einfach nur gesponnen, welchen Charakter mein Kind wohl hat. Elias war ja so ein Ruhiger und Gemütlicher - Hanna das genaue Gegenteil.

Je greifbarer Hanna wurde, umso mehr wuchs in mir der Wunsch, die Schwangerschaft mit ihr bewusst zu erleben und Hanna zu helfen, Spuren in dieser Welt zu hinterlassen. So erlebte ich die verschiedenen Situationen ganz bewusst mit ihr, hielt diese im Foto fest und veröffentlichte diese auf What’s app. Ein Tag vor Hannas Geburt und Tod war ich mit Elias und Hanna noch einmal in der Krabbelgruppe der Philippusgemeinde in Bielefeld und eine Freundin dort, mit der ich auch Hannas Kleid nähte, sagte mir etwas, das mich sehr berührt hat: „Ich freu mich so, euch zu sehen. Es fühlt sich so an, als wenn ich Hanna echt kennen gelernt hätte.“

Es half mir sehr, mit meiner Trauer umzugehen, Hanna so bewusst zu erleben und mit ihr all das zu machen, das ich so herzlich gerne mit meiner Tochter gemacht hätte. Nähen, backen, Mädelsabende… Leider ist uns nicht mehr vergönnt gewesen.

Gleichzeitig musste der Abschied vorbereitet werden. Das Leben feiern, den Tod betrauern. Das waren zwei Pole, die die ganze Zeit bestimmten und einfach unglaublich kräfteraubend waren. Und das alles nach dem Schock, dass man sein Kind verlieren wird. Ich bin froh, dass wir es vorher wussten. So hatte ich bewusst Zeit mit ihr. So konnte ich diese Zeit und den Tag der Beerdigung vorbereiten. So konnten wir unseren Aufenthalt im Kinderhospiz organisieren, auf das uns meine Frauenärztin brachte. So konnte ich ein Kinderbuch schreiben, um Elias begreifbar zu machen, was hier gerade passiert. Einfacher war dieser Weg dadurch aber nicht. Im Gegenteil. Ständig zu trauern, was noch gar nicht zu betrauern war. Nicht diese Vorfreude zu erleben und die Glücksgefühle, die einen durch all die schwierigen Tage der Schwangerschaft durchhelfen, empfand ich als unglaublich belastend. Dazu kamen immer wieder auch Aussagen wie “Wenigstens wisst ihr das schon vorher, dann ist der Schock nicht ganz so schlimm.” Der Schock ist vielleicht nicht ganz so schlimm, weil er sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, das Leiden verringert sich dadurch aber nicht. Ich fand einen Satz sehr hilfreich auch für Freunde und Angehörige: “Wenn man sein Kind verliert, gibt es kein “wenigstens…”” Kein “Wenigstens hast du ja noch ein Kind…” “Wenigstens weißt du, dass Hanna jetzt im Himmel ist…” “Wenigstens bist du noch jung und kannst ja immer noch ein Kind kriegen…” oder halt auch das erste “Wenigstens”. Leid lässt sich nicht vergleichen. Ob man das vorher schon wusste, oder nicht, ob man sein Kind nach 9 Monaten oder 9 Wochen verliert oder trotz Kinderwunsches nie schwanger wird, ist letztlich unrelevant, weil es Leid mit sich bringt, das für jeden Betroffenen einfach riesengroß ist.

In den letzten zwei Wochen der Schwangerschaft baute ich körperlich immer mehr ab. Da Hanna nicht schlucken konnte, hatte ich zu viel Fruchtwasser und der Bauchumfang war echt belastend. Und trotzdem konnte ich mich nicht dazu entschließen, endlich einleiten zu lassen. Ich wollte sie nicht loslassen. Ich wollte sie einfach noch eine kleine Weile behalten. Ich wollte auch nicht über ihren Tod entscheiden.

Letztendlich hat Hanna selbst den Startschuss gegeben. Am 31.10.18 zeigte sich bei der Untersuchung, dass Hanna nicht mehr in Schädellage, sondern in Beckenendlage und die Nabelschnur ganz unten lag. Abends kam unsere Hebamme noch, mit der wir durchsprachen, was im unwahrscheinlichen Fall eines Blasensprungs zu tun sei, um die Möglichkeit zu erhöhen, Hanna noch lebendig im Arm zu halten.

Um zehn vor sechs am nächsten Morgen ging ich auf Toilette. Als ich mich wieder hinlegte, bewegte sich Hanna so stark, wie sie es vorher noch nie getan hatte. Plötzlich lief das Fruchtwasser und ich blieb liegen, um keinen Nabelschnurvorfall zu provozieren. So wurde ich dann mit dem Krankenwagen liegend ins Krankenhaus gebracht, wo sich zum Glück heraus stellte, dass Hanna noch in Beckenendlage lag und die Nabelschnur nicht vorgefallen war. Den Vormittag über verbrachte ich mit dem Warten auf die Wehen, zwischendurch kam Sebastian mit Elias vorbei, bevor er ihn zu einer guten Freundin brachte, die auf ihn aufpassen sollte. Meine Mutter hatte am Vormittag auf ihn aufgepasst.

Da meine Entzündungswerte so hoch waren, sollte früher eingeleitet werden, aber da waren die Wehen dann auch schon sehr produktiv und der Muttermund 2-3cm offen. Die Hebamme tastete leider auch eine Hand oder einen Fuß, sodass noch mal kontrolliert werden musste, wie Hanna lag. Dabei stellte sich heraus, dass Hanna in Querlage lag und ich so schnell wie möglich einen Kaiserschnitt bekommen sollte. Um 16.11 Uhr kam Hanna zur Welt. Die Hebamme überreichte sie Sebastian. Hanna reckte sich noch einmal. Dann bekam ich sie auf die Brust. Sie hatte ihre wunderschönen dunklen Augen offen und sah mich an. So lagen wir mehrere Minuten, bis die Ärzte mich weiter versorgen mussten. Sebastian ging mit ihr zurück in den Kreißsaal. Irgendwann wurde ich rüber geschoben und das Bild von Sebastian, wie er im Schneidersitz auf der Liege da saß, unsere Tochter im Arm hielt und sie mit einer Mischung aus Rührung und Trauer ansah und immer wieder sagte, wie wunderbar sie ist, hat mich echt berührt.

Dann bekam ich Hanna wieder auf die Brust. Sie zu spüren und zu sehen war unbeschreiblich. Einer der Gemeindeleiter kam mit zwei Freunden, um Hanna zu segnen. Während wir noch für sie beteten, kam unsere Freundin mit Elias gegen 17 Uhr rein. Unser Traum von ambulanter Entbindung und dem sofortigen Wechsel ins Kinderhospiz ging durch den Kaiserschnitt kaputt. Sebastian übernachtete mit Elias zu Hause, während meine Mutter kam. Sie sah ihre Enkelin noch lebendig und war bei mir, als die Ärzte ihren Tod fest stellten. Hanna lag die ganze Zeit reglos, aber unglaublich friedlich auf meiner Brust. Wir wurden ins Zimmer gefahren und Hanna blieb die Nacht über dort, wo sie den Großteil ihres Lebens verbrachte und wo sie starb, nah an meinem Herzen.

Am nächsten Tag kam die Sternenkindfotografin und kurz nach dem Mittagessen die Oberärztin, die mir mitteilte, dass wir noch am gleichen Tag ins Hospiz könnten. Sie rang mit sich, aber das war wirklich ein kleines Wunder für mich. Ich bin ihr von Herzen dankbar dafür.

Dieser Weg war alles andere als leicht und hätte mich vermutlich zerbrochen, wenn wir nicht so viel Unterstützung gehabt hätten. Ich möchte mich daher bei jedem einzelnen bedanken, der mit uns unsere Last getragen hat. Sei es mit der Wohnung, sei es mit Hanna. Ohne die vielen schönen Begegnungen mit so vielen Leuten hätte ich diese Zeit nicht so überstanden.

Die größten Stützen auf diesem Weg waren aber meine zwei Männer. Sebastian, du hast seit Februar eine unglaubliche Last zu tragen gehabt. Du hast mit einer unglaublichen Stärke meine Trauer mitgetragen, obwohl du selbst genug zu trauern hattest. Du warst für mich und Elias der Anker in diesem Sturm und ich bin Gott echt von Herzen dankbar, dass er mir mit dir einen so wunderbaren Mann und Vater für unsere Kinder geschenkt hat. Ich bin wirklich dankbar, dass uns diese Zeit nicht voneinander getrennt, sondern enger zusammen geführt hat. Du, Elias und Hanna, ihr seid das Beste, was mir passieren konnte. Ich liebe dich sehr.

Die Tage im Hospiz vom 2.11. bis zum 9.11. taten uns als Familie sehr gut. In der ersten Wucht der Trauer nicht alleine zu sein, war unendlich hilfreich. Die Möglichkeit zu haben, gemeinsam als Familie in einem liebevoll und warm gestalteten Umfeld Abschied von Hanna nehmen zu können, sie die ganze Zeit bei uns zu haben bis zu ihrer Beerdigung tat gut und war aber auch hilfreich, um sie am Tag der Beerdigung auch gehen lassen zu können. Zu sehen, wie sich ihr Körper trotz der Kühlung im Abschiedsraum immer mehr veränderte, machte uns echt zu schaffen. Gleichzeitig andere Familien kennen zu lernen, die auch diese Lasten tragen müssen, war für mich eine echte Bereicherung. Und um endlich die Frage vom Anfang zu beantworten: war es der richtige Weg? Ich kann von ganzem Herzen sagen, es war es wert. Hanna war es wert. Auch wenn ich mein kleines Mädchen vermisse und dieser Verlust eine Narbe hinterlassen wird. Es war der richtige Weg und ich möchte echt jedem Mut machen, der mit so einer furchtbaren Diagnose konfrontiert ist, diese Option des Austragens in Erwägung zu ziehen.

Sehr gute Informationsseite zu Anenzephalie von betroffenen Eltern gestaltet