Sieben Tage im Kinderhospiz

Es ist mir immer mehr ein Bedürfnis geworden, unsere Zeit im Kinderhospiz zu “Papier” zu bringen, auch, um die vielen wertvollen Einzelheiten nicht zu vergessen. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich mal Gast in einem Kinderhospiz sein würde. Darauf gebracht hat mich meine Frauenärztin, die sich sehr in unsere besondere Schwangerschaft hinein investiert hat. Relativ bald nach der Diagnose warf sie die Frage in den Raum, was denn sei, wenn Hanna länger als nur ein paar Stunden leben sollte. Es gibt Berichte von anenzephalen Kindern, die bis zu zwei Wochen gelebt haben. Sebastian wollte gerne mit Hanna nach Hause. Der Gedanke, immer wieder in das Zimmer gehen zu müssen, in dem meine Tochter gestorben ist, machte mir diese Option aber unmöglich. Da kam die Idee von Frau Sander mit dem Kinderhospiz gerade zur rechten Zeit. Abends las ich mir die Webseite des Hospizes durch und war von dem, was ich sah und las sehr angetan. So haben wir einen ersten Kennenlerntermin für den 4.7.18 vereinbart. Elias fühlte sich gleich sichtlich wohl und wollte gar nicht mehr weg. Und auch Sebastian und ich waren von der Wertschätzung für unseren Weg, den Menschen dort, den Räumlichkeiten und den Möglichkeiten sofort begeistert. Wie beruhigend war es zu hören, dass wir auch kommen dürften, wenn Hanna bereits vorher versterben sollte.

Freitag

So kam es, dass wir mit unserer toten Tochter am Freitag, den 2.11., den kurzen Weg vom Krankenhaus zum Hospiz fuhren. Das einzige Mal, dass sie im Kindersitz saß. Das einzige Mal, dass wir als Familie so im Auto fuhren. Dieser Gedanke war echt bitter.

Im Hospiz angekommen, wurden wir sehr liebevoll begrüßt und direkt in das Abschiedszimmer geführt. Auf dem Kühlbett stand bereits ein liebevoll zurecht gemachtes Weidenkörbchen bereit. Nachdem wir Hanna hinein gelegt hatten, setzten wir uns. Die Wertschätzung, die uns entgegen gebracht wurde, war wie Balsam für meine Seele. Dass Menschen meine Tochter sahen und nicht von ihrem Tod oder ihrer Krankheit abgeschreckt waren, sondern ihre Schönheit sehen konnten, hat mich sehr berührt. So saßen wir eine zeitlang da und redeten. Elias war mit dabei und zunächst auch sehr geduldig. Irgendwann war sein Bedürfnis, endlich mit den vielen tollen Spielsachen dort spielen zu dürfen, aber doch zu groß. So schnappte er sich die Hand einer Mitarbeiterin des Kinderhospizes, zog sie hoch und ging mit ihr zum Spielen. So offen und forsch habe ich ihn bis dahin nicht erlebt. Er schien wohl gemerkt zu haben, dass seine Eltern gerade nicht in der Lage zum Spielen waren. Da ich körperlich immer noch sehr geschwächt war, wurde mir ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt und die Mitarbeiter stellten für mich ein Bett im Abschiedsraum auf, damit ich dort auch liegen konnte. Was für ein Segen das war.

Irgendwann bezogen wir unser wunderschönes Zimmer im Elternbereich und es ging zum ersten Abendbrot mit den anderen Familien. Die nahmen uns auch sehr herzlich auf. Als ein Vater mich fragte, wieso ich im Rollstuhl säße, und meine Antwort so lapidar klang: “Kaiserschnitt gestern”, wurde mir im Nachgang klar, wie viel in so kurzer Zeit passiert war. Bis zum Tag vorher war ich noch schwanger und meine Tochter lebendig. Dann kam der Blasensprung, der Kaiserschnitt und letztlich ihr Tod. So schnell kann sich die ganze Welt verändern. Und nun saß ich einen Tag später im Hospiz mit meiner toten Tochter im Abschiedsraum und meinem quicklebendigen Sohn und meinem Mann im Speisesaal. Umringt von Familien, die alle mit dieser Aussicht zurecht kommen müssen, dass sie ihr Kind früher oder später ebenfalls loslassen müssen.

Mich haben die Gespräche mit den anderen Familien echt sehr bewegt. Zu sehen, wie andere Menschen zum Teil schon seit Jahren das erleben, was wir in ganz konzentrierter Form erlebt haben, und wie sie damit umgehen, fand ich sehr hilfreich. Von der Diagnose, dass das eigene Kind sterben wird, über den Weg, dass man die kurze gemeinsame Zeit versucht so gut es geht zu gestalten und zu genießen, bis hin zum Tod. Wir hatten keine mitunter zermürbende Pflegezeit, ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das ist, wenn man über Jahre hinweg ein immer größer werdendes Kind pflegen muss, von dem kaum Rückmeldungen kommen oder das regressiert und immer mehr wie ein kleines Kind wird. Ich habe echt Hochachtung vor den Familien, die sich so einer Aufgabe stellen müssen und die ihr Kind trotzdem lieben. Kurz nach der Diagnose habe ich “meinen” AWO-Senioren, mit denen Elias und ich donnerstags spazieren gegangen sind, seitdem der kleine Mann zwei Monate alt war, von unserem Kind erzählt. Einer kam dann auf mich zu und erzählte mir, dass sein Sohn Mikroenzephalie hatte und bis zu seinem Tod mit elf Jahren schwerst mehrfachbehindert war. Auf meine Frage, ob sie sich gewünscht hätten, dass er bei der Geburt gestorben wäre, wenn sie das vorher gewusst hätten, antwortete er sinngemäß: “Nein, wir haben die Zeit mit ihm genossen.”. Es hat mich sehr beeindruckt zu sehen, mit welcher Liebe er über seinen Sohn gesprochen hat, dass er den Segen seiner Existenz sehen konnte. Ähnliche Liebe habe ich bei vielen der Familien im Hospiz auch gesehen. Eine Mutter sagte mir, dass sie oft zu hören bekomme, wie schlimm das doch sei. Sie kann das nicht ganz nachvollziehen, weil das doch ihre Jungs sind, die sie so liebt, wie sie sind. Man weiß vermutlich nicht, was man alles aushält, wenn man nicht in der Situation steckt.

In der ersten Nacht hatte ich sehr starke Schmerzen. So ein Kaiserschnitt ist halt eben doch eine Operation. Zwischendurch zweifelte ich daran, ob das die richtige Entscheidung gewesen ist, so bald nach der OP das Krankenhaus zu verlassen. Wie gut, dass es Schmerzmittel gibt.

Samstag

Samstag schickte Julia, die meine Kontaktperson nach außen war, in meinem Auftrag dann folgende Mail an unseren Rundbriefverteiler:

“Ina, Sebastian, Elias und Hanna sind gestern zusammen ins Hospiz umgezogen. Sie fühlen sich dort gut aufgehoben. Hanna liegt im Abschiedsraum. Wer sie gerne kennenlernen möchte, darf heute oder morgen kommen. Vielleicht ist sie auch noch etwas länger dort, aber irgendwann muss sie zur Bestatterin.”

Ich war innerlich sehr zerrissen. Die ganze Schwangerschaft über hatte ich versucht, dass meine Umgebung Hanna als Menschen wahrnimmt und sie kennen lernt, so gut es geht. Nun war sie da und ich wollte sie wirklich von Herzen mit all den Menschen teilen, die so an ihrem Leben Anteil genommen haben. Auf der anderen Seite war ich noch nicht bereit dazu, sie mit anderen zu teilen und mich ihnen zu stellen. Als dann die ersten Besuche kamen, musste ich mir selbst eingestehen, dass es noch nicht an der Zeit war. Ein Telefonat mit der Bestatterin gab mir dann auch den Raum, weitere Besuche zu vertagen. Ich ging davon aus, dass Hanna irgendwann in die Kühlung bei der Bestatterin muss. Wie glücklich war ich, als unsere Bestatterin mir sagte, dass Hanna auch gerne bis zur Beerdigung bei uns bleiben könne, da sie ja im Hospiz auf einem Kühlbett liege und das Personal vom Hospiz im Umgang mit toten Körpern geschult sei. Was für eine Erleichterung und was für ein Segen uns das Hospiz auch in dieser Hinsicht geworden ist.

So bat ich Julia noch am gleichen Tag, folgende Mail rauszuschicken: “Ihr Lieben, Ich hab heute gemerkt, dass es doch noch etwas zu früh ist, wenn jetzt mehrere Besucher kommen. Im Gespräch mit der Bestatterin kam auch raus, dass wir Hanna so lange wir wollen im Hospiz lassen können. Von daher würde ich euch bitten, wenn ihr vorhabt Hanna oder uns zu besuchen, meldet euch per Mail oder Whats app, damit ich schauen kann, ob das gerade passt. Vielen Dank für all das Mittragen. Viele Grüße, Ina”

Das war dann wirklich gut so. Die Besuche, die wir dann bekamen, taten mir sehr gut und ich konnte Einfluss darauf nehmen, wer uns wann besuchen kommt. Nach dem Frühstück am Samstag gingen Elias, Sebastian und ich als erstes zu Hanna. Dort las ich Elias zum ersten Mal mein Buch “Hanna ist im Himmel” am Bett seiner Schwester vor. Ich begann mit “Es war einmal ein fröhlicher kleiner Spatz, der hieß”. Weiter kam ich nicht. Noch bevor ich “Max” sagen konnte, sagte er bereits: “Elias”. Er hatte scheinbar seine Geschichte mit der Geschichte im Buch verknüpft. Das hat mich völlig irritiert und gleichzeitig gefreut. Nachdem meine Mutter mit meiner Schwester und meinem Neffen am Samstag da waren, war Katrin Schmidt die erste Besucherin aus dem Freundeskreis. Genau an dem Tag fand in Erfurt das jährliche Treffen der Anenzephalie-Gruppe statt. Und mit mir am Totenbett meiner anenzephalen Tochter saß Katrin, die ihre Tochter Dalia acht Jahre vorher mit der gleichen Fehlbildung ausgetragen und verloren hatte. Sie überbrachte mir die Grüße der Anenzephalie-Gruppe, von der ich so unfreiwillig ein Teil geworden bin. Die Webseite, die von Monika Jaquier ins Leben gerufen wurde, war mir in meiner Schwangerschaft mit Hanna ein echter Schatz. Ich fand das sehr stark von Katrin, sich dem auszusetzen und mich zu besuchen. So vergingen die Tage und es fügte sich, dass ich jeden Tag Besuch von einer nahe stehenden Freundin bekam. Es tat so gut, Hanna mit den Menschen zu teilen, die sich auch in meiner Schwangerschaft der Unsicherheit, wie sie mit mir umgehen sollten und meiner Trauer stellten. Die gerne mit mir Zeit verbrachten und das zum Teil auch sehr regelmäßig. So fuhren Elias und ich die letzten Monate der Schwangerschaft jeden Freitag Nachmittag zu Julia. Elias hatte viel Spaß mit Julias Tochter Noemi und ich konnte einfach nur sein. Das tat so gut und ich bin ihr wirklich von Herzen dankbar dafür. Gerade Julia, Mimi, Kirsten, Katrin und Daniela haben sich meiner Trauer, meinen Fragen und meiner Wut auch gestellt und waren für mich da. Ich glaube, es gehört viel Mut dazu, sich einer trauernden Mutter zu stellen und sich nicht von der Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu machen, davon abhalten zu lassen einfach Zeit mit demjenigen zu verbringen. Aber das ist genau das, was ich brauchte: Menschen, wo ich immer hingehen konnte. Es gab noch mehr Menschen, die sich dem gestellt haben. Der Sommer war ein Sommer voller Besuche. Der Zustand unserer Wohnung trieb mich auch immer wieder raus, um Kraft zu sammeln. Aber diese Menschen stachen echt heraus. Danke euch allen!

Sonntag

Sonntag fuhr Sebastian mit Elias zum Gottesdienst, während ich mich zuerst mit unserer Hebamme, die ebenfalls eine echte Stütze geworden ist in dieser Zeit, und später dann mit Mimi traf. Irgendwie fiel es mir schwer, Hanna seit unserer Ankunft im Hospiz aus dem Körbchen zu nehmen. Zu fühlen, wie kalt ihr Körper ist, tat mir echt weh. An dem Sonntag tat ich es zum ersten und einzigen Mal und legte mich mit ihr auf die Liege. Dort entstand auch das Foto, das auf der Startseite zu sehen ist. Zu sehen, wie normal und wie schön sie aussah, tat gut und schmerzte gleichzeitig. Dieses Kind nicht beim Aufwachsen zu begleiten, keine durchwachten Nächte mit ihr zu erleben und dafür mit einem Lächeln am nächsten Tag ausgesöhnt zu werden. Nicht den ersten Zahn feiern zu können oder die ersten Versuche, sich zu drehen oder später zu krabbeln und dann zu laufen. Nicht das Staunen von ihr erleben zu dürfen über all die großen und kleinen Dinge des Lebens, die wir so selbstverständlich hinnehmen. Nicht all die Meilensteine feiern zu können, tut so enorm weh. Und dieser Schmerz wird auch nie wirklich ganz verschwinden. Er wird sich wohl wandeln, wie ich das von anderen gehört habe, aber Hanna wird immer fehlen. Umso mehr habe ich mich über all die Menschen gefreut, die einen wunderbaren und natürlichen Umgang mit ihr hatten. Mimi nahm sie auch auf den Arm und bestaunte sie unter Tränen. Es hilft mir zu wissen, dass ich mit anderen Menschen über mein Kind reden kann, in dem Wissen, dass sie Hanna kennen gelernt haben.

Recht bald entdeckte ich auch die CD von Arne Kopfermann “Mitten aus dem Leben” wieder. Ich hatte sie während der Schwangerschaft schon gekauft, nachdem ich ein Interview von ihm gelesen habe. Er hat in einem tragischen Autounfall seine zehnjährige Tochter verloren. Auch er hat seine Trauer dadurch bewältigt, dass er von Anfang an andere an seiner Tragödie hat teilhaben lassen. Auch er hat viel über seine Tochter Sara gesprochen. Das hat mir gut getan zu wissen. Zwischendurch hatte ich ehrlich gesagt schon meine Zweifel, ob das, was ich in der Schwangerschaft mit den Fotos von Hanna und mir und den Veröffentlichungen auf What’s app tat, überhaupt normal ist, geschweige denn hilfreich. Es hat etwas gedauert, bis ich durch Gespräche mit anderen Betroffenen und der Lektüre verschiedener Bücher begriffen habe, dass Menschen sehr unterschiedlich trauern und dass das nun mal meine Art der Trauerbewältigung ist. Sebastian meinte nach unserer Rückkehr nach Hause mal sehr treffend, dass er der “Innenminister” gewesen sei, der unsere Familie zusammengehalten hat, und ich die “Außenministerin”, die Hanna mit anderen geteilt habe. Im Abschiedsraum hatte ich die CD von Kopfermann im CD-Spieler und hörte sie rauf und runter. Besonders das Lied “Dann seh ich dich”, das er für seine Tochter schrieb, ist zu einem Lied von Hanna und mir geworden, wofür ich sehr dankbar bin. Musik tut einfach gut und berührt die Seele auf eine Art, wie Worte allein es nie tun könnten.

Montag

Montag Nachmittag fanden wir endlich Zeit und Kraft, um uns Erinnerungen mit Hanna zu schaffen. Elias wurde derweil erst von der pädagogischen Betreuung im Kinderhospiz und später von der Mutter seiner besten Hospizfreundin Pauline betreut. Die zwei waren auch herzzerreissend süß. Es verging kein Tag, an dem Elias nicht von Pauline redete. Die Zuneigung bestand auf beiden Seiten. So hatten wir Zeit und Ruhe, um erst 3D Hand- und Fußabdrücke und dann noch Fußabdrücke auf Stofftaschen machen zu können. Mehr zufällig stoß ich auf eine Webseite, die erklärte, wie man 3D Abdrücke macht und im Mäusetreff, der Krabbelgruppe der Philippusgemeinde, in die Elias und ich gehen, seitdem Elias ein Jahr alt ist, stieß ich zum ersten Mal auf Stofffingerfarbe. So konnten wir Erinnerungen für uns, aber auch für unsere Familien schaffen.

So mit dem toten Körper unserer Tochter zu hantieren, war für uns beide eine echte Herausforderung. Dort wurde mir zum ersten Mal sehr schmerzlich bewusst, dass das lediglich die tote Hülle meiner Tochter ist. Im Laufe der Tage ihren zunehmenden Zerfallsprozess mitzubekommen, war schmerzlich und hilfreich zugleich. Dachte ich kurz nach der Entbindung noch, dass ich die Beerdigung so weit wie möglich aufschieben wollte, wurde ich am Montag aber zunehmend bereit dazu, das, was von ihr übrig blieb, loszulassen. So überlegten wir Montag Abend zum ersten Mal, dass wir von dem geplanten Freitag oder Montag in der darauf folgenden Woche abrücken wollten und die Beerdigung schon vorher sein sollte. Dienstag war zu kurzfristig. Mittwoch ging es auch nicht, da dort Sebastian einen Termin mit einem Heizungsfachmann hatte, der die Heizkörperzähler anbrachte, sodass wir die Heizungen, die schon montiert waren, dann auch nutzen durften. So blieb der Donnerstag. Genau eine Woche nach ihrer Geburt und ihrem Tod. Da die Friedhöfe sehr restriktive Zeiten haben, wann Beerdigungen möglich sind, entschieden wir uns, dass zehn Uhr eine gute Zeit ist, zu der wir noch relativ entspannt die letzten Dinge erledigen können morgens und zu der Elias aber noch nicht müde ist. Wir waren uns trotz einiger Fragen sehr sicher, dass wir ihn bei der Beerdigung dabei haben wollten. Deshalb beschrieb ich in meinem Buch “Hanna ist im Himmel” auch die Beerdigung. Mir war schon klar, dass dadurch nur sehr wenige Freunde aus der Schule, an der ich bis zu Elias’ Geburt tätig war, kommen könnten. Aber dieses Erlebnis mit ihm zu teilen war uns beiden einfach enorm wichtig.

Sebastian war es sehr wichtig, seine Tochter auch vor den Behörden zu vertreten, so verbrachte er immer wieder Zeit im Krankenhaus und im Amt, um den Totenschein zu bekommen und sie im Amt an- und wieder abzumelden. Auch mussten die erforderlichen Dokumente zum Friedhof. Die täglichen Besuche meiner Hebamme taten gut. Nicht nur, weil sie mich im Wochenbett betreute und sicher stellte, dass die Narbe gut verheilte, sondern auch für meine Seele. Sie kannte sich mit solchen Schwangerschaften aus und hatte immer auch ein offenes Ohr für mich. Sie gab mir Tipps, wie ich nicht nur meinem Körper helfen kann, wieder auf die Beine zu kommen, sondern auch meiner Seele. Das war enorm wertvoll.

Montag Abend bemerkte ich dann, dass mein Milcheinschuss kurz bevor stand.

Dienstag

Dienstag war es dann soweit. Ich hatte bis zur Schwangerschaft Elias noch gestillt. Im März versiegte meine Milch allerdings. Da der Umzug einen Monat später jedoch anstand und er seitdem ich schwanger wurde so enorm anhänglich war, wollte ich ihm nicht so viel auf einmal aufbürden. Daher entschied ich mich, ihn bis kurz nach dem Umzug “trocken” zu stillen und dann sanft abzustillen. Ich hatte die Hoffnung, dass er so die Veränderungen besser bewältigen kann. Fünf Tage vor dem Umzug kam dann die Diagnose von Hanna mit der Gewissheit, dass ich nach der Geburt Milch haben werde, aber kein Baby. Ich war mir relativ sicher, dass das meiner Seele gut tun würde, wenn ich Elias dann wenigstens weiter stillen könnte. So stillte ich ihn dann die fünf Monate weiter “trocken” durch, was oft sehr unangenehm war. Direkt nach der Geburt war er dann auch sehr froh, dass er stillen konnte. Ich hatte auch keine Schmerzen mehr dabei. Alles schien wirklich gut, bis zum Milcheinschuss. Das war für Elias scheinbar zu viel. So verweigerte er den ganzen Dienstag lang die Brust. Da saß ich nun mit meiner Milch, ohne Baby und auch mein Sohn verweigerte sich. Das war der absolute Tiefpunkt. Mit dem Milcheinschuss startet auch häufig der Babyblues nach der Geburt. Die Hormone verändern sich und man wird plötzlich unglücklich - nach einer normalen Entbindung schon. Elias und Sebastian sind so ein gutes Team. Das waren sie schon immer und in den letzten Wochen meiner Schwangerschaft noch viel mehr, wo Sebastian immer mal wieder einspringen musste, weil ich körperlich einfach nicht mehr konnte. Elias sieht auch seinem Papa sehr ähnlich. Eine Bekannte sagte einmal, dass er ein kleiner Klon seines Papas sei. Wie recht sie hatte. Nicht nur äußerlich, sondern auch vom Charakter her. Hanna hatte braune Haare, so wie ich. Das berührte mich sehr und es schmerzte umso mehr. Dieses Gefühl, dass dieses Kind, das ich nicht einmal kennen lernen konnte, vielleicht mehr nach mir gekommen wäre, dass “mein Team” nun inkomplett ist, schlug an dem Dienstag mit einer Wucht ein, die mich echt haltlos machte. Mit der Verweigerung von Elias hatte ich dann auch noch zusätzlich das Gefühl, dass ich nicht nur Hanna verloren hatte, sondern auch ihn. Rational war mir klar, dass das nicht der Fall war. Sobald ich wieder voll für ihn zuständig wäre, würde sich das auch wieder ändern. Und wir waren vorher schon ein gutes Dreierteam. Aber die Gefühle kamen meinem Verstand nicht hinterher. Und dann musste ich mich ja auch um das Zuviel an Milch in meinen Brüsten kümmern. An dem Tag hatte ich mir sehr oft gewünscht, dass ich diese Abstilltablette, die mir im Krankenhaus angeboten wurde, genommen hätte. Am nächsten Morgen dann trank er endlich zaghaft wieder. Wie gut das tat. Seitdem stillt er auch wieder wirklich gerne. Mein Gefühl bestätigte sich. Das tat meiner Seele enorm gut. Ich habe immer gerne gestillt und so konnte ich ihm in meiner körperlichen Schwäche trotzdem etwas geben, das ihm gut tat. Einen weiteren positiven Aspekt des Stillens hatte ich damals gar nicht im Blick - Stillen fördert die Rückbildung. Und so war auch meine Hebamme trotz der schwierigen emotionalen Umstände sehr zufrieden damit, wie sich mein Körper nun auf die neue Situation einstellt.

Mittwoch

Mittwoch wurde es dann emotional wieder etwas ruhiger bei mir - zumindest tagsüber. Sebastian fuhr mit Elias in unsere Wohnung wegen der Heizkörperzähler und ich hatte noch mein vorletztes Projekt zu erledigen. Ich hatte vor zig Jahren im Rahmen meines Pädagogikstudiums ein außerschulisches Praktikum im Seelsorgezentrum des EC-Verbandes (EC: entschieden für Christus) absolviert. Dort hatte ich im Rahmen der Arbeitstherapie die Möglichkeit, verschiedene Holztiere zu sägen. Im Laufe der Jahre verschenkte ich das ein oder andere Ergebnis dieser Arbeitstherapie. Zwei Figuren blieben allerdings übrig: ein Schlangenpaar, das sich aneinander schmiegt und eine Elefantenmutter mit ihrem Baby. Elias wollte, dass ich ihm in der Frühschwangerschaft von Hanna ständig Lieder vorsinge (von denen mir im Übrigen wirklich schlecht wurde ;-). Ich habe jedoch ganz tapfer durchgehalten mit dem Erfolg, dass er jetzt unglaublich viel singt. Eine echte Freude). Eines seiner Lieblingslieder handelte von zwei Schlangen. So schliff und bemalte ich das Schlangenpaar so, wie sie im Buch illustriert waren und schenkte sie ihm zum zweiten Geburtstag. Das Elefantenpaar wollte ich dann für Hanna fertig machen. So schnappte ich mir meine Lautsprecher, setzte mich in den Sonneschein nach draußen und schliff zu den Klängen von Arne Kopfermann mein Elefantenpaar. Diese Zeit tat mir wirklich gut. Etwas für Hanna tun zu können und mich von der erstaunlich warmen Novembersonne wärmen zu lassen, gab mir eine echte Ruhepause von all den wirren Gedanken und Gefühlen. Das sind so Erinnerungen, die mir auch heute noch gut tun. Das brauchte ich auch dringend vor der nächsten Nacht. Danach setzte ich mich an den Laptop, um die Fotos zu einem Film zusammenzustellen, den ich am nächsten Tag auf der Trauerfeier zeigen wollte.

Nachdem fest stand, wann die Beerdigung statt finden sollte, beschlossen wir, unseren Freunden und Familie einen offenen Termin anzubieten, an dem jeder der wollte, Hanna im Hospiz kennen lernen konnte. So kamen dann vor und auch nach dem Abendessen mehrere Freunde aus der Schule, die am nächsten Tag nicht dabei sein konnten und auch andere Freunde, die sie in Ruhe schon mal kennen lernen wollten. Auch das tat gut. Wir nutzten auch die Gelegenheit, um von Hanna noch ein paar Haare abzuschneiden als Erinnerung. Verschiedene Leute hatten damals bewundert, wie rund Elias’ Köpfchen doch sei. Dafür hatte er kaum sichtbare Haare. Wie ironisch, dass Hanna zwar viele und auch recht lange braune Haare hatte, dafür gerade ihr Köpfchen die Fehlbildung trug, die ihr das Leben kostete. Danach versuchten wir Elias ins Bett zu bekommen. In der Woche im Hospiz kam sein Schlafrythmus vollkommen durcheinander, sodass er teilweise erst um zehn/ halb elf zum Schlafen kam. So war es dann auch kurz nach zehn, als ich mich an den Laptop setzte, um den Text zu verfassen, den ich auf der Trauerfeier vorlesen wollte (das ist der Text: Diagnose: Anenzephalie). Ich hatte bereits in der Schwangerschaft versucht, so einen Text über Hannas Leben zu verfassen, kam aber nie weit. An diesem Abend flossen die Worte so aus mir heraus und zwei Stunden später war ich dann fertig. Es gab noch so viel zu tun vor der Beerdigung und ich merkte gleichzeitig, wie sich meine Kehle immer mehr zuschnürte. Mir war so übel vor Angst vor dem nächsten Tag. Das war die letzte große Frage, die noch offen blieb: Wie überstehen wir das? In der Nacht konnte ich kaum schlafen und versuchte noch die letzten Dinge zu regeln, die mir plötzlich siedend heiß durch den Kopf schossen. Ständig kreisten meine Gedanken um den nächsten Tag und darum, dass dieser Abschied mir das letzte nehmen würde, was ich von meiner Tochter hier noch hatte.

Donnerstag - Hannas Beerdigung

Am nächsten Morgen war ich wie gerädert. Unser Plan, entspannt zu frühstücken, Hanna dann aus ihrem Weidenkörbchen in den Sarg zu legen und Elias die Kuscheltiere hinein legen zu lassen, ging nicht so ganz auf. Wir schafften alles, aber es war definitiv nicht entspannt. Elias war ganz guter Dinge, als er Hanna den Koalabären, den Kirsten und Daniel, und die Katze, die Bianca und Rolf ihr geschenkt hatten, in den Sarg legte. Unglaublich, wie natürlich Kinder mit dem Tod umgehen. Auf dem Weg zum Friedhof sagte Elias plötzlich: “Hase, Eule, Taube, Mama, Papa, Max alle traurig”. Damit überraschte er mich. Das war die Beerdigungsszene aus meinem Kinderbuch. Sebastian war am Tag vorher mit ihm noch einmal beim Friedhof, um ihm in Ruhe zu erklären, was am nächsten Tag passieren würde. Ich dachte, dass Sebastian dabei auf das Kinderbuch Bezug genommen hätte und Elias das deswegen sagte. Aber dem war nicht so. Er hatte allein den Transfer von den Erklärungen seines Vaters über die Beerdigung auf Englisch auf das Kinderbuch, das ja in Deutsch geschrieben war, geleistet. Ich war vollkommen überrumpelt davon.

Über die Beerdigung selbst, werde ich noch einen eigenen Text verfassen.

Wir waren deutlich länger auf der Trauerfeier als gedacht. Gegen halb vier brachen wir dann auf zurück zum Hospiz. Auf der Fahrt schlief Elias ein und auch ich war so erschöpft und auch kräftemäßig am Ende, dass ich mich auch schlafen legte. Um fünf weckte uns Sebastian auf, da er erfahren hatte, dass um viertel nach fünf der Laternenumzug vom Hospiz starten sollte. Elias war Feuer und Flamme, als sie nach einem kurzen Lied vorm Hospiz mit ihren Laternen starteten. Einige Tage zuvor hatte er mit den Betreuern vor Ort eine Laterne gebastelt. Ich nutzte die Zeit, um im Abschiedsraum meine Gedanken zu sortieren und noch mal Abschied zu nehmen am nun leeren Körbchen. Als ich hörte, dass der Umzug zurück kam, traf ich die beiden im Wohnzimmer des Kinderhospizes, wo es Kinderpunsch gab und für alle zur Feier des Tages das Abendritual des Pflegebereichs in erweiterter Form. Gemeinsam mit den anderen Familien sangen wir Laternenlieder, hörten eine Geschichte und tranken Punsch. Wir saßen zu dritt auf einer Couch und ich fühlte mich so entspannt und so glücklich wie schon lange nicht mehr. Die letzte große Frage hatte sich positiv beantwortet. Ich habe gespürt, dass Gott mir so einen ganz tiefen Frieden geschenkt hatte und das tat einfach gut. Wie glücklich ich war, dass dieser Tag mit so einem schönen Ende für uns alle endete. Nachdem sich am übrigen Tag alles um Hanna drehte, war nun der Fokus wieder ganz natürlich auf Elias gelenkt worden, der so quicklebendig und fröhlich mit uns durch diese extreme Zeit hinduch gewandert war und der der größte Trost war in all meiner Trauer.

Freitag

Dieser Abend machte mich dann auch bereit, das Hospiz am nächsten Tag zu verlassen und mich auf unser sehr unfertiges Zuhause zu freuen. Leicht fiel mir der Abschied dennoch nicht. Ich musste ein wesentliches Stück meiner Geschichte und meiner Zeit mit Hanna im Hospiz zurück lassen.